Leseproben für kleine Schmökerratten
- Kinderbücher von Indie-Autoren

Dienstag, 19. Juni 2012

"Der Tag, als der Regen nicht mehr aufhörte" von rocktpapa


Klappentext 

Nach drei Wochen Regen hat Korbinian genug. Er hält es in seiner Wohnung nicht mehr aus, zieht seine Schwimmflossen an und geht hinaus auf die überflutete Straße. Doch die Stadt ist nicht mehr dieselbe, und je länger der Junge sich hier aufhält, desto mehr verändert auch er sich. Bald wird ihm klar, dass das Anderssein zu großen Problemen führt: alle misstrauen ihm, jeder scheint nur noch das Schlimmste von ihm zu glauben. Sogar die Polizei verhaftet Korbinian schließlich, und macht sich nicht einmal die Mühe seinen Namen richtig aufzunehmen.
Zum Glück trifft er bald einen neuen Freund, der sich Aga Rell nennt, und der ihm hilft, das beängstigende Treffen mit der Ehrfurcht gebietenden "Behörde" zu meistern. Schließlich drehen sich die Verhältnisse noch einmal: Korbinian findet nach Hause, und Aga Rell ist ein Flüchtling und Fremder. Doch zusammen überwinden die beiden auch dieses Problem.
Ein Buch über Ausgrenzung und Freundschaft für Kinder zwischen 8 und 14 Jahren, erhältlich bei amazon.
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Leseprobe: Der Tag, als der Regen nicht mehr aufhörte

Es hatte drei Wochen geregnet, nur geregnet, und Korbinian war langweilig. Er hatte alle seine
Bücher gelesen, alle CDs gehört und jeden Film schon dreimal gesehen. Seine Spielzeuge
langweilten ihn, und seine Mutter hatte viel zu selten Zeit. Weil er sich eine leichte Erkältung
eingefangen hatte, durfte er nicht hinaus, und seine Freunde besuchten ihn viel zu selten. Er
fühlte sich furchtbar.
An einem dieser Tage hockte er vor dem Fenster auf der Heizung und starrte hinaus. Unzählige
Tropfen fielen ohne Pause vom Himmel und sammelten sich in den tiefen Pfützen auf der
Straße. Korbinian und seine Mutter wohnten im vierten Stock eines Hochhauses, und selbst von
hier oben konnte er sehen, wie die Leute unten bis zu den Knöcheln im Wasser wateten. Er
beneidete sie. “Die erleben wenigstens was”, dachte er sich. Korbinian erlebte nie etwas. Seine
Mutter ließ ihn nie Abenteuer erleben, erlaubte ihm nie zu toben oder spielen, wenn andere
Kinder draußen waren. Manchmal wünschte er sich, sein Vater wäre noch da. Doch den hatte
er nie kennen gelernt. Wenn er seine Mutter fragte, sagte sie nur “Er ist fort, er ist
untergetaucht.” Korbinian fragte sich, was das bedeutete, “untergetaucht”. Für ihn bedeutete es
nur eines, dass er nämlich niemanden hatte, der mit ihm Abenteuer erlebte.
Vor dem Fenster stieg das Wasser immer höher. Bald überschwemmte es alle Gehwege, die
Autos standen bis zum Auspuff in den Fluten. “Mama, es regnet immer mehr”, rief Korbinian.
“Das wird der Klimawandel sein”, meinte seine Mutter aus der Küche. Sie trocknete Gläser ab.
Korbinian wunderte sich, was der Klimawandel ist. Er fand es blöd, wenn jemand Sachen sagte,
die er nicht verstand. Deshalb ging er in die Küche und sagte:
„So ein Quatsch.“ Dann stampfte er wieder zurück zum Fenster. Draußen war das Wasser
weiter gestiegen, von den Autos, die links und rechts an der Straße geparkt waren, sah man nur
noch die Dächer. Ein Postbote schwamm vorbei, ein kleiner Hund verfolgte ihn strampelnd und
versuchte, den Mann zu beißen.
Korbinian hatte keine Lust mehr, sich zu langweilen, und seine Mutter schien mit der Hausarbeit
gar nicht mehr aufzuhören. Er ging zur Wohnungstüre, öffnete sie so leise, dass ihn keiner
hörte, und schlüpfte in das Treppenhaus. Er stieg hinab zur Haustür und öffnete sie vorsichtig.
Was er sah, erstaunte ihn. Draußen schien alles zu schweben, Blätter trieben ganz langsam
durch die Luft, eine weggeworfene Plastikflasche schaukelte wie von Geisterhand angestupst
vor sich hin. Auch war alles in ein komisches Licht getaucht, etwas grünlich und dunkler als
sonst. Als Korbinian eine dicke Luftblase sah, die aus einem Gulli aufstieg und nach oben in
Richtung der Dächer entschwand, wurde es ihm klar: er befand sich unter Wasser. Die ganze
Straße musste überflutet sein, der Regen war so lang und heftig gefallen, dass sich die Pfützen
zu Tümpeln vereint hatten, die Tümpel zu Seen verschmolzen waren und der Pegel in den
Seen immer und immer höher gestiegen war, bis sie alles überspülten. Korbinian spähte in die
Höhe. Weit oben, kurz über dem Fenster des dritten Stocks konnte er das Schillern der
Wasseroberfläche ausmachen. Drei Stockwerke! So hoch stand also die Flut.
Er überlegte kurz, dann machte er die Türe wieder zu, ging hinauf in sein Zimmer und suchte
tief unten in seinem Kleiderschrank nach seiner Taucherbrille, dem Schnorchel und den
Schwimmflossen, die er zum achten Geburtstag geschenkt bekommen hatte. Es klebte noch
Sand vom Urlaub in Griechenland daran.
Er befestigte den Schnorchel am Gummizug der Brille, setzte sie auf, zog die knallroten
Gummiflossen an. Dann watschelte er wieder aus der Wohnung, rief seiner Mutter noch ein „Ich
bin gleich zurück!“ zu und ging hinab zum Hauseingang.
Vor der Haustüre fand er alles unverändert vor. Eine sanfte Strömung erfasste ihn, sobald er
einen Fuß ins Freie gesetzt hatte, und zog ihn sanft die Straße hinunter in Richtung des
Supermarktes. Weit und breit waren keine anderen Menschen zu sehen. Ein kleiner blauer
Fisch drehte nachdenkliche Runden um einen Laternenpfahl. Korbinian wollte ihn anfassen,
doch das Tier entwischte ihm in letzter Sekunde.
Er überlegte, was er tun sollte. Es kam ihm sehr merkwürdig vor, dass er unter Wasser herum
spazierte. Vielleicht war es gefährlich, und er sollte besser nach Hause zurück gehen. Doch
dann fiel ihm ein, wie langweilig es war, bei Regenwetter herum zu sitzen, und er entschloss
sich, einen Spaziergang zu machen.
Außerdem war ihm noch ein anderer Gedanke gekommen. Seine Mutter hatte doch gesagt,
Papa sei untergetaucht. Vielleicht war er hier unter Wasser? Korbinian hatte sich manchmal
gewünscht, er könnte seinen Vater kennen lernen. Was war er für ein Mensch? Mama sagte, er,
Korbinian, hätte die Augen seines Vaters. Im richtigen Licht leuchteten sie silbern, wie polierte
Dessertlöffel.
Der Supermarkt war geöffnet. Die automatische Schiebetür bewegte sich völlig lautlos, und
auch im Inneren herrschte Stille. Keine Kassiererin zog mit stetem Pieps-Pieps-Pieps die
Einkäufe der Kunden über den Scanner, keine Musik kam von den Lautsprechern an der
Decke, niemand unterhielt sich. In der Tat war auch dieser Ort wie ausgestorben. Kein Mensch
war zu sehen, so als wären alle vor der anbrandenden Flut Hals über Kopf geflohen.
Einkaufswagen standen halb befüllt zwischen den Regalen, deren Fächer wie immer bis oben
hin voll waren mit Dosen, Schachteln und Flaschen. In der Gemüseabteilung hing eine Wolke
loser Salatblätter im Raum, bei den Knabbersachen schwebten die Chipstüten unter der Decke.
Korbinian nahm sich einen Schokoriegel aus dem Fach neben der Kasse. Er wollte nicht
stehlen, deswegen wartete er, ob jemand kam, bei dem er bezahlen konnte. Doch nach einigen
Minuten wurde ihm klar, dass er vergeblich hier stand. Deswegen legte er den Kaufpreis in
Zehncentstücken auf das Förderband und ging hinaus. Die Verkäuferinnen würden, wenn sie
zurück kamen, sicher die Münzen kassieren.
Der Schokoriegel schmeckte nicht, er war nass und labbrig. Korbinian schmiss ihn in eine
Mülltonne. Ein kleines Tier hatte sich dort eingenistet, das aussah aus wie ein winziges
Nashorn, nur dass es zwei zusätzliche Hörner auf dem Kopf hatte. Der Junge mochte seinen
Augen nicht trauen: Es war ein Dinosaurier, ein Triceratops, nicht größer als seine Hand.
Korbinian kannte alle Dinos auswendig beim Namen.
Das Tier schnappte nach der Süßigkeit und verkroch sich unter einer Bierdose.
Korbinian war neugierig, woher der Dino gekommen war. Deswegen griff er in den Papierkorb
und hob die Bierdose auf. Sie war unerwartet schwer, und als er sie in die Höhe hielt und
darunter sah, erkannte er, dass sich das Tier mit dem Maul am Rand des Gefäßes fest
klammerte, während es die erbeutete Süßigkeit zwischen seine stämmigen Hinterbeinen
geklemmt hatte.
Korbinian nahm aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahr. Hinter der großen Glasfront der
Bankfiliale, die dem Supermarkt gegenüber lag, starrten ihn vier Kinder an – oder zumindest
hielt er sie für Kinder. Als sie nämlich durch die Drehtür des Gebäudes ins Freie kamen, sah er,
dass sie nicht wie er auf zwei Beinen liefen, sondern schwommen. Ihre Füße waren flach und
breit, fast so als trügen auch sie Schwimmflossen.
Korbinian wusste nicht, was ihn mehr erstaunte, das kleine Urzeitwesen im Mülleimer oder
Wesen aus der Bank. Diese waren sehr dünn, Arme und Beine wirkten geradezu zerbrechlich.
Sie bewegten sich fließend, fast wie Ballerinas. Ihre Haut schimmerte weißlich, sie hatten keine
Haare auf dem Kopf und ihre Augen waren groß und silbern. Ob die Kinder Kleidung trugen
oder nicht war schwer zu erkennen, weil ihre Brust, Hüfte und Beine von mehreren
unregelmäßigen Schuppen in variierenden Grautönen bedeckt waren. Korbinian hatte noch nie
Kleidung gesehen, die so merkwürdig war, andererseits ähnelten die Schuppen auch nicht dem
Rest der Haut. Die vier Wesen waren einen Kopf größer als er, und sie glitten einen bis zwei
Meter hoch über dem Erdboden, so dass sie von oben auf den Jungen hinab sahen. Doch nicht
nur deswegen hatte er ein bisschen Angst. Die Neuankömmlinge begannen ihn zu umkreisen
wie Raubtiere die Beute.

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