Das Vermächtnis des Häuptlings Bärentatze.
Es war ein regenreicher Tag vor dreihundertzwanzigtausend Jahren.
Häuptling Bärentatze und sein Bruder der Schamane hatten es, unter fast
unmenschlichen Anstrengungen, gerade noch bis zur Quelle geschafft. Der
Häuptling wusste, dass er nicht nur den Kampf mit dem ungewöhnlich bulligen
Hengst verloren hatte. Noch bevor die Götter das dunkle Netz am Himmel gespannt
haben würden und der Mond aufgegangen sein wäre, würde er seine letzte Reise zu
der Mutter allen Seins antreten.
Erfahrungen unzähliger Jagdausflüge hatten ihn das Verhalten
der Pferde gelehrt. Er konnte den Weg der Herde vom großen Fluss kommend, durch
das von hohem Gras bewachsene Löwenland, am Elefantenfriedhof vorbei bis in die
hügeligen, bewaldeten Gebiete des kleinen Mondgebirges und schließlich zur
Wasserstelle genau vor seinem geistigen Auge sehen. Dann folgte das immer
gleiche Ritual: Der Leithengst als erfahrener Anführer lief ein gutes Stück vor
der Herde. Nicht weit von dem See entfernt stoppte die Gruppe wie von geheimer
Hand gesteuert. Der bullige Hengst trabte dann allein den Weg bis fast zum See,
tänzelte auf der Stelle, schnaubte mit den Nüstern und erkundete, ob Gefahr für
seine Herde droht. War die Luft rein, trabte er gelassen in stolzer Haltung und
mit wehender Mähne zurück, um souverän seine fünfundzwanzig Pferde zählende
Herde im Galopp unter dem donnernden Getöse der Hufe zum See zu führen.
Der Schamane, obwohl unverletzt, war völlig erschöpft. Sein
Bruder hatte viel Blut verloren, sodass er ihn fast tragen musste. Der Hengst
hatte ihn mit seinen Vorderhufen am Kopf getroffen und eine mächtige Wunde an
der Stirn hinterlassen. Sie hatten ihm auflauern und genau an der Stelle
erlegen wollen, an der er immer die Herde stoppte und sich anschickte, allein
die Lage zu erkunden. Nur wenige Meter von dem Pferd entfernt hatten sie sich
in das Gras geduckt. Urplötzlich, von einem Moment auf den anderen, jagte der
Hengst auf die Brüder zu und ging sofort zum Angriff über. Jeder der Männer
konnte nur noch halbherzig einen Speer werfen. Die Wirkung war gering. Als
Bärentatze am Boden lag und offensichtlich auch vom Schamanen keine Gefahr mehr
ausging, kehrte das Pferd zu seiner Herde zurück.
Diese Geschichte sollte noch lange an den Feuern erzählt
werden. Vor allem, weil der stolze, bullige Hengst seine Herde doch
tatsächlich, als sei nichts gewesen, zur Wasserstelle geführt hatte.
Immer noch schwer atmend musste der Schamane seine Frage
endlich loswerden. „Warum wolltest Du unbedingt zur Quelle Bruder? Der Weg zum
See wäre näher gewesen, um deine Wunde zu säubern. Und warum auch noch weiter
auf die Kuppe des Hügels?“ Der Häuptling blickte still in die Landschaft. Er
spürte sie mehr, als dass er sie sah. Das Blut und damit sein Leben floss
langsam und unaufhörlich aus ihm heraus. Hier, von diesem Hügel, gleich
oberhalb der Quelle, konnte man weit ins Land schauen. Er war es, der vor
vielen Monden diesen Ort entdeckt und als festes Winterlager vorgeschlagen hatte.
Vor seinem geistigen Auge tauchte das Lager auf. Die Quelle
mit ihrem ständig sprudelnden, perlenden Wasser, das sie in einen kleinen Bach
abgab, der schließlich weiter unten im Tal den Zaubersee speiste. Der dichte
Tabuwald mit seinen Rätseln kam ihm in den Sinn. Er sah die bläulich
schimmernden Berge, das große Mondgebirge genannt. Er ahnte hinter sich das
kleine Mondgebirge mit seinen Laubbäumen, die im Herbst von Gelbbraun bis
Feuerrot schimmerten. Und er sah von seinem Platz auf dem Hügel weit in die nur
mit wenigen Bäumen bewachsene Steppenlandschaft.
„Lass meinen Körper hier an diesem Platz. Meine Seele
braucht ihn nicht für die Reise.“
Das hatte es noch nie gegeben, ging es dem Schamanen durch
den Kopf. Starb jemand während der großen Sommerwanderung oder der Jagd, blieb
er an Ort und Stelle liegen und man überließ ihn den Göttern der Tiere.
„Häufe Steine über meinen Körper und lass den Stamm Erde
darüber schichten. Hier an dieser Stelle habe ich viele Monde lang das
Vermächtnis der Ahnen bewahrt. Hier soll unser Stamm sich in Zukunft
versammeln, wenn es wichtige Entscheidungen zu treffen gibt. Damit er sich
immer an das Vermächtnis erinnert. Kannst Du mir das versprechen, Schamane?“
„Ich verspreche es. Aber was ist dieses Vermächtnis, von dem
ich als Schamane des Stammes nichts weiß?“
„Es gibt nicht die ganze Lösung her, die das Überleben des
Stammes sichern könnte. Auch ich habe die ganze Wahrheit nicht gefunden.
Vielleicht findet sie Bärenjäger.“
„Bärenjäger?“
„Ja, mein Sohn schafft es vielleicht, wenn er eines Tages
Häuptling unseres Stammes vom Zaubersee ist.“
„Er ist zu jung, um Häuptling zu werden. Ich vermute, der
Stamm wird sich für Wisent entscheiden.“
„So wird es kommen, aber die Götter haben Großes mit ihm
vor. Ich spüre das. Zunächst prüfe ihn, und nur wenn er die vier Prüfungen
besteht, soll er den Stamm anführen. Versprichst du es mir bei den Göttern?“
„Ich verspreche es bei den Göttern.“
Der Häuptling lehnte mit dem Rücken an einem etwa mannshohen
Felsen, der Einzige auf der baumlosen Kuppe. Der Stein war gerade breit genug,
um eine brauchbare Rückenlehne abzugeben. Hier hatte er oft gesessen und über
die Zukunft seines Stammes nachgedacht.
„Jetzt aber grabe direkt hinter dem Felsen und bring mir,
was du findest.“
Bärentatze krümmte sich vor Schmerz, während der Schamane
versuchte, mit seinem Wurfstock ein Loch in die Erde zu bekommen. Erst jetzt
nahm er wahr, dass es schon den ganzen Tag regnete. Mühsam brachte er
schließlich ein Fellbündel zum Vorschein. Er wollte alles dem Häuptling, der
sich wieder aufgerichtet hatte, übergeben.
„Nein, wickele Du es aus“, stöhnte der.
Heraus kam eine wunderschöne Figur von der Größe eines
Faustkeils aus Elfenbein. Sie stellte einen Elefanten dar.
„Wer kann denn so etwas erschaffen?“
Der Schamane war völlig durcheinander. Noch nie hatte er
eine solch schöne Figur gesehen.
„Unser junger Steinschläger, der auch immer wieder gute
Speere fertigt, der bringt so manches zustande. Er ist sehr geschickt. Aber so
etwas! Es muss ein großer Künstler gewesen sein.“
„Ja, mein Vater sagte mir, es war der Vater seines Vaters.“
Häuptling Bärentatze fiel das Sprechen immer schwerer. Das
Blut rann ihm unaufhaltsam über das Gesicht.
„Wir sind ursprünglich der Stamm der Elefanten, wie du weißt
… ein heiliger Stamm … unsere Geschichte, die Geschichte der Götter. Wir dürfen
uns erst wieder so nennen, wenn einer von uns einem Elefanten das Leben
gerettet hat. Versteck die Figur in einer Höhle im kleinen Mondgebirge, bis du
sie einem von unserem Stamm übergeben kannst. Ich hoffe, es wird mein Sohn …
Bärenjäger sein. Und sprich mit der alten weisen Frau. Sie muss alles erfahren,
hörst du?“
Häuptling Bärentatze stöhnte und legte sich flach auf die
Erde. Zum Sitzen fehlte ihm inzwischen die Kraft. Sein Gesicht war unter dem
Blut ganz weiß geworden.
„Sieh dir auch das Stück Holz an, Bruder. Es soll einen
Speer darstellen.“
Die Stimme des Häuptlings wurde immer leiser. Der Schamane
nahm erst jetzt den zweiten Gegenstand, den er aus dem Fell gewickelt hatte,
richtig zur Kenntnis. Er war sehr hart und etwa so lang wie sein Unterarm. Mit
einem Mal wurde ihm klar, dass dieses Holz schon sehr alt sein musste, und es
war offenbar immer noch brauchbar.
„Wie haben unsere Ahnen das gemacht?“
„Beug dich zu mir runter. Ich erzähle Dir jetzt alles was
ich weiß, von der Elefantenfigur, dem kleinen Speer aus Holz und den Prüfungen
für Bärenjäger.“
Als der Schamane sich erhob, hatte der Häuptling Bärentatze
seine Reise zu der Mutter allen Seins bereits angetreten und der aufziehende
Sturm hatte seine Worte mitgenommen.
Nach dem die Steine aufgeschichtet waren, sprach der
Schamane: „Deine Feinde werden immer weiter über die Erde wandern müssen, bis
sie getötet werden. Du aber wirst zu der großen Herde stoßen und eines Tages
mit ihnen zusammen die Erde tragen. Dein Geist wird unter Deinesgleichen auf
dem Elefantenfriedhof ruhen, wie es dir gebührt. Und alle vorbeiziehenden
Elefanten werden dir die Ehre erweisen.“
Autorenbiografie:
Wilfried Stütze wurde 1950 in Braunschweig geboren. Im
Hauptberuf war er Kaufmann, auch Zeitsoldat, zuletzt Unternehmensberater für
betriebliche Altersversorgung.
Gelegentlich ist er als Weltenbummler unterwegs. Zuletzt
bereiste er mit seiner Frau Laos, Myanmar und Vietnam. Als Italienliebhaber,
Bergwanderer und ehemaliger Sportflieger widmet er sich seit 2007 seiner
lebenslangen Leidenschaft – dem Schreiben.
Persönliches:
Noch heute bewahre ich mein erstes Buch auf.“Der kleine Heinz
hat viel zu tun“ heißt es. Es folgten natürlich Bücher von Karl May,
Gerstäcker, dann endlich Hemingway, Thomas Mann, Joseph Conrad, Maugham, um nur
einige zu nennen. Alles großartige Erzähler. Sind wir nicht alle durch unsere
Schriftsteller irgendwie geprägt worden? Schreiber und Leser?
Der Wunsch es selbst einmal mit dem Schreiben zu versuchen war
schon früh in mir. Naja, es ist wohl einfach die Lust am Erzählen, die mich
treibt.
So habe ich 1987 den ersten kleinen Text für meine Kinder
aufgeschrieben. 1993 versuchte ich mich an der ersten Kurzgeschichte – nur so
für mich. Inzwischen konnte ich eine Reihe von Kurzgeschichten und zwei
regionalgeschichtliche Bücher veröffentlichen.
Wenn es mir gelungen sein sollte, mit dem aktuellen Abenteuerroman
„Die Jäger vom Zaubersee“ eine spannende, mitreißende Geschichte zu erzählen,
wäre mein Wunsch in Erfüllung gegangen – Geschichtenerzähler zu sein.
Ich möchte einfach nur ein Geschichtenerzähler sein.
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